In der Nacht zuvor gab es noch Feuerwerke über Belgrad. Der 13. Januar war der letzte Tag im alten Jahr nach dem Kalender der serbisch-orthodoxen Kirche. Doch dann kam das neue Jahr mit einem Schock: «Schmeissen sie Novak jetzt aus dem Land?», titelte die Boulevardzeitung «Blic» in spürbarer Erregung: «Ist es nun vorbei mit dem Australian Open?» Denn an diesem Spätnachmittag australischer Zeit, also am frühen Morgen in Europa, hatte Australiens Einwanderungsminister Alex Hawke erneut das Visum für Tennisstar Novak Djoković annulliert.
Obwohl die harte Linie der australischen Regierung sowohl in der Corona- als auch in der Migrationspolitik kein Geheimnis ist, kam die Entscheidung für die serbische Öffentlichkeit doch unerwartet. Am Tag zuvor hatten die Medien noch mit der Teilnahme ihres Stars beim Australian Open fix gerechnet. Sie jubelten schon über die Auslosung, die ein «serbisches Derby» versprach: Djoković gegen die Nummer 78 der Weltrangliste, Miomir Kečmanović. Natürlich würde Djoković dieses Spiel gewinnen so wie auch die darauffolgenden und damit im Halbfinal auf Rafael Nadal treffen, so rechneten die Sportjournalisten. «Novak ist das Aushängeschild des Australian Open», kommentierte die Zeitung «Novosti»: «Wir glauben, dass es kommenden Montag noch genau so sein wird.»
Das war wohl ein Irrtum, und die Zeitung «Blic» muss resignierend feststellen: «Novak Djokovićs Golgatha in Melbourne nimmt kein Ende.» Novak am Kreuz, Novak der Erlöser – mit diesem Vergleich hatte Anfang Januar der Vater des Tennisstars
Schlagzeilen gemacht.
Heute aber bleibt die Familie Djoković stumm. Kein Pressestatement, keine Kommentare in den sozialen Medien. Vermutlich wurde ihnen von der Politik oder von Medienberatern dringend empfohlen, vorerst zu schweigen. Denn noch am selben Abend in Australien, gegen 11 Uhr Vormittag europäischer Zeit, eilten Djokovićs Anwälte in Melbourne zu Gericht, um abermals Einspruch gegen die drohende Ausschaffung einzureichen.
Mehrere serbische Medien berichteten mit einem Liveticker von der Anhörung und lieferten dazu das Video aus dem Gerichtssaal. Djoković soll vorerst nicht festgenommen werden, sondern erst am Samstag nach einem Gespräch mit der Einwanderungsbehörde in Gewahrsam kommen – wo genau, ist noch nicht bekannt. Am Sonntag soll dann ein Richter über sein Schicksal entscheiden. Es sind «die entscheidenden 48 Stunden für Novak», da sind sich alle in Serbien einig.
Auch die serbische Politik verhält sich in dieser Situation überraschend zurückhaltend. Zu Wort meldete sich lediglich der ehemalige Bürgermeister von Belgrad, Nebojša Čović. Er beurteilt die Entscheidung der australischen Regierung – wenig überraschend - als «miserabel und korrupt». Čović sieht die Gefahr einer «globalen Diktatur», der sich Djoković entgegenstelle. Was ihn zum «Symbol und zum Leuchtfeuer der freien Welt» mache.
Die Welle der Empörung ist heute in Serbien jedoch deutlich kleiner als vor zehn Tagen, beim ersten Versuch Australiens, den Tennisstar auszuschaffen. Es gibt durchaus auch Stimmen, die den Fall differenzierter sehen und zu etwas mehr Distanz und Gelassenheit auffordern. Sie kommen vor allem in Medien zu Wort, die nicht unter Kontrolle der nationalistischen Regierung stehen. Sie kritisieren Djokovićs Weigerung, sich impfen zu lassen, und seine demonstrative Haltung, die Gefahren der Pandemie zu ignorieren.
Serbien verzeichnete am Donnerstag mit knapp 14’000 Infektionen den höchsten Tageswert seit Beginn der Corona-Krise. Da sehr wenig getestet wird, könnte die Dunkelziffer viel höher liegen. Am Freitag tagt der nationale Krisenstab, Experten warnen, dass die Lage durch Omikron ausser Kontrolle geraten könnte.
Im TV-Sender N 1 kritisiert der bekannte Psychologe Zarko Trebješanin den «Mangel an Zurückhaltung und gesundem Menschenverstand in dieser Situation». Immerhin gehe es jetzt auch um die Frage, ob möglicherweise ein Corona-Test gefälscht wurde, «und da steht viel auf dem Spiel». Trebješanin warnt, dass Djoković zu einer Ikone der Impfgegner in Serbien werden könnte: «Ich fürchte, das wird kommen. Aber es wäre gar nicht gut für ihn.»
(Quelle: Tagesanzeiger.ch)
Bernhard Odehnal über sich: Geboren 1966 in Wien, Studium der Slawistik (Russisch, Serbokroatisch), fünf Jahre Redakteur bei der Wiener Stadtzeitung Falter, danach freischaffender Journalist mit Schwerpunkt Osteuropa, Balkan, Reportagen aus Bosnien und dem Rest Jugoslawiens für Profil, Format, News, Berliner Zeitung, Die Zeit, Weltwoche. 1999 bis 2000 Pressesprecher in Priština bei der OSZE-Mission im Kosovo, ab 2000 Auslandsredaktor der Weltwoche in Zürich, seit 2004 Korrespondent des Zürcher «Tagesanzeiger» mit Sitz in Wien.