Wladimir konzentriert sich mittlerweile auf wenige Mittel, die ihm gegen viele Gegner zum Sieg reichen. Er bewegt sich ganz gut, er hat einen Weltklasse-Jab und eine gute Schlagkraft. Eine taktische Marschroute kann er einhalten. Ende. Mehr nicht. Im heutigen Schwergewicht noch genug.
Die Schwächen sind überdeutlich: Hilflos im Infight, wo er nur klammern kann. Eindimensional ohne jede Variabilität. Nur eine mittelprächtige Präzision mit rechten und linken Haken. Kaum Arbeiten zum Körper, kaum Aufwärtshaken etc. - Möglicherweise Dinge, die er zwar beherrscht, die er aber aus Sicherheitsgründen nicht einsetzt. Deshalb war er auch so hilflos, als Rahman sich mit löchriger Doppeldeckung an die Seile stellte.
Dafür kann es nur eine treffende Bezeichnung geben: Peinlich. Es ist absolut peinlich, wenn die Nr. 1 der Gewichtsklasse mit dem Anspruch, einmal zu den Größten aller Zeiten der Gewichtsklasse gehören zu wollen, gegen einen, völlig fertigen, abgehalfterten Gegner zu nicht mehr in der Lage ist als ein paar Jabs und unpräzise Haken zu schlagen und den Rest der Zeit ratlos vor dem Opfer abzuwarten.
Daher kann bei Abwägung aller Fakten nur ein Urteil möglich sein:
Wladimir ist verdienter WM, es war ein eindeutiger Sieg, allerdings ohne jeden Glanz, phasenweise peinlich und letztlich eines Champions unwürdig.
So ähnlich sehe ich das auch. Natürlich gibt es immer Diskussionen, wenn man nach einem dermaßen überlegenen Fight den Sieger kritisiert, er hätte mehr machen müssen, anders boxen, konnte er nicht, wollte er nicht? etc. etc. Wladi hat eine Weltklasse-Jab, guten Handspeed, die Beinarbeit ist auch klasse. Ob man von ihm mehr erwarten kann, ist eine Frage dessen, was man sich von einem Fighter wünscht, der zwei große Gürtel trägt (ich erwarte mehr!) Dass Wladi nicht mehr Risiko gegangen ist (und auch gar nicht gehen musste) kann bei jedem anspruchsvollen Boxfan einen schalen Nachgeschmack hinterlassen, sagt aber vor allem auch eine Menge darüber aus, wie schwach Rahman gestern wirklich war. Man kann natürlich immer sagen: Was habt ihr denn alle? Hat doch gereicht! Mehr war nicht nötig! Stimmt auch. Aber ein Doppel-WM muss es sich schon gefallen lassen, dass man an ihn auch besonders hohe Erwartungen stellt. Wenn sich der Gegner bspw. minutenlang am Seil vor Wladi hinstellt, und dem fällt nichts anderes ein, als übervorsichtig aus sicherer Entfernung mit dem Jab in die Doppeldeckung zu hauen, dann ist das wohlwollend gesehen Risikovermeidung pur, kritisch betrachtet ein technischer und taktischer Mangel und kann von beiden Standpunkten aus niemand vom Hocker hauen.
Was Rahman angeht, braucht man eigentlich gar nicht mehr viel zu sagen. Er war ein Einspring-Gegner, der genau so schlecht war, wie die meisten befürchtet haben. Wie er versucht hat, sich klein zu machen und den Schlägen auszuweichen, das war schon fast das beste, was er zu bieten hatte. Man war in diesen Momenten versucht, sich zu wünschen, dass er mal einen schnellen Schritt in den Mann rein machte, um à la Tyson unter der über ihn hinwegfliegenden Rechten von Wladi durch zu tauchen und mit ein paar blitzschnellen Kombis am Mann den Gegner abzuschießen - aber dann wachte man auf, und da stand eben Rahman 2008 im Ring und nicht Tyson 1987. Und Rahman hat halt in Sachen Beinarbeit, Handspeed und Explosivität absolut überhaupt nichts mehr zu bieten. Er sollte aufhören.
Es ist natürlich nicht Wladimirs Schuld, dass das HW derzeit so wenig Spitzenleute zu bieten hat. Das Problem ist nur, dass diese Flaute meiner Meinung nach inzwischen ernsthaft Gefahr läuft, Wladis Status zu beschädigen. Er ist der Champ, keine Frage, er bestimmt die derzeitige Messlatte im HW. Aber beim gestrigen Fight dürfte auch dem letzten einigermaßen boxsportinteressierten Zuschauer gedämmert haben, dass seinen Kämpfen seit geraumer Zeit das "Feuer" des Risikos fehlt, von dem ein guter Kampf und das ganze Boxen nun mal leben. Okay, vielleicht reicht es den Hardcore-Wladi-Fans, das kann sein. Aber mir ist das zu wenig. Zu einseitig und vorhersehbar war das, was da seit der ersten Runde im Ring ablief. Da wird eine Riesenshow von RTL abgezogen, Rahman klopft die üblichen Sprüche amerikanischer Boxer, aber was dann Ring passiert, ist die einseitige Demontage eines müden, abgehalfterten Ex-Champs, der seine großspurigen Ankündigungen nicht annähernd in Taten umsetzen kann. Platt ausgedrückt: Das war Currywurst, als Kaviar verpackt!
Und solche sportlichen Mogelpackungen haben meiner Meinung nach nur eine begrenzte Halbwertszeit. Ein oder zwei Fights nach dieser Stickart sind kein Problem, das machen die meisten. Aber wenn die Spannung bei Kämpfen eines Champs seit Jahren auf der Strecke bleibt, dann ist das eine mehr als bedenkliche Entwicklung. Wladi läuft m.M. nach Gefahr, sich Mangels vernünftiger Gegnerschaft "tot zu siegen". Noch mal: Das ist nicht Wladis Schuld, er macht was er kann, boxt technisch und taktisch klug und diszipliniert, und das reicht um seinen Ausnahmestatus zu bestätigen. Aber dass am Horizont Wolken aufziehen, die seinen Nimbus und den des HWs insgesamt auch beim breiten Publikum verdunkeln können, kann man spätestens seit gestern nicht mehr wegdiskutieren!