Ich hatte es 116:110, wie man hier im Thread nachlesen kann. Das meine Prediction den Nagel auf dem Kopf traf, war dann doch Zufall. Der Kampf war die Wundertüte, die ich erwartet habe. Haye und Booth hatten einen Plan. Sie hatten sich genau überlegt, wie sie Wladimirs Jab vermeiden und halbwegs neutralisieren. Sie haben sich überlegt, wie sie durch viel Beweglichkeit auf den Beinen sowie vom Kopf und Oberkörper her Waldimir kein statisches Ziel bieten. Sie hatten einen genauen Plan was man gegen Wladimirs bekanntes Klammern und das so gefährliche, weil für den Gegner Kräfte raubende Drauflehnen machen könnte. Sie hatten taktisch sehr klug ein Risengeschrei im Vorfeld des Kampfes über die Unart der Kampfrichter gemacht, Wladimirs Fouls durchgehen zu lassen und Rodriguez so indirekt unter Druck gesetzt, dies diesmal anders zu handhaben. Ein ständiges Empören während des Kampfes trug zunächst dazu bei, diesen Druck erfolgreich aufrecht zu erhalten.
Haye hat erkennbar im Training am eigenen Jab gearbeitet und sich um die Beherrschung von Schlägen aus schwierigen Winkeln bemüht. All das war gut geeignet den eher eindimensional bis einfallsarm agierenden Wladimir öfters ungeschickt und roboterhaft wirken zu lassen, als dies bisher allen anderen Gegnern gelungen war. Soweit so positiv.
Leider war Haye damit aber so sehr beschäftigt, dass er die wichtigste Komponente des Boxens, den Angriff, zunehmend vernachlässigte. Offensiv gab es seine bekannten Heumacher, denen aber leider kaum Erfolg beschienen war. Seine sehr defensive Grundhaltung lies ihn bei Kontern und Überraschungsangriffen immer wieder zu weit vom Gegner weg sein. Unverständlicherweise ging ihm auch nicht ein Licht auf, dass gerade das konsequente Nachsetzen hinter einem im Rückwärtsgang immer wieder ungeschickten und leicht zu treffenden Wladimir nicht nur Möglichkeiten zu Punkten sondern sogar zum Anklingeln des Gegners geboten hat. Auch hat er aus seiner Defensive einige Male gut den Jab gebracht, aber auch das nicht konsequent fortgeführt.
Insgesamt ist Haye in seiner Taktik auf dem halben Wege stehen geblieben, warum?
Entgegen seinen martialischen Ankündigungen vor dem Kampf war er sich seiner Sache nicht so sicher. Er hatte jede Menge Respekt vor der effizienten Art zu Boxen von Wladimir. Er befürchtete offenkundig sehr konkret in einem Duell mit offenen Visier den Kürzeren zu ziehen. Der Jab Klitschkos sollte möglichst den bei Wladimirs früheren Gegnern gut sichtbaren Schaden nicht anrichten. Haye war zu keiner Zeit bereit durch Wladimirs zwar beschränktes, aber wirkungsvolles Feuer zu gehen. Er wollte eben nicht den oder Punches nehmen um selber seine Trefer zu landen. Das Vertrauen in die eigenen Nehmerqualitäten war nicht überdurchschnittlich groß. Darin lag der Schlüssel zum Kampf. Hayes Taktik war die leicht modifizierte Version des Valuev-Kampfs. Hat er sich da sinnfreier Weise von Lennox Lewis beraten lassen? Spätestens seit Kevin Johnson sollte klar sein, dass man mit einem Defensivfeuerwerk zwar den Gegner tapsig aussehen lassen kann, aber trotzdem keinen Kampf gewinnen wird, wenn der Gegner sehr aktiv ist und gelegentlich trifft.
Warum? Wladimir hatte die Ringmitte, er boxte fast ständig im Vorwärtsgang und hatte klar die Workrate auf seiner Seite. Damit hat er schon die halbe Miete zusammen, wenn es um die Punkte geht. Sein Jab traf schlecht, er war frühzeitig gezwungen, die Angriffe über die Rechte zu führen um den wie immer mit hängender Linke agierenden Haye zu treffen. Auch wenn Haye die ein oder andere Runde auf meinem Punktzettel durch die eine klare Aktion pro Runde klauen konnte, die deutliche Mehrzahl der Runden muss man Wladimir geben, der pro Runde fast immer die Mehrzahl der Treffer hatte, wenn auch in so mancher Runde der eine klare Treffer in der ein oder anderen Runde bei Haye lag. Vor allen hinten heraus hat Haye den Kampf entgültig verloren, da in den Runden 8 bis 11 fast nichts mehr kam. Erst in der zwölften Runde griff Haye richtig an, traf auch gegen einen konditionell nachlassenden Wladimir mit sichtbarer Wirkung, um sich dann aber anschließend von Wladimir selber einige Haken einzufangen, sodass auch diese Runde nur an Wladimir gegeben werden kann.
Was bleibt?
Ein nun faktisch undisputed Champion, der nicht zu glänzen wusste und der deshalb vielleicht auch weiterhin nicht zu den ATGs gerechnet werden wird und unbeliebt bleibt, weil auch bei diesem Sieg wie auch z.B. in denen gegen Rahman & Ibraghimov zu viele Schwächen offenbar wurden (die im Grunde genommen längst bekannt sind).
Ein nun ehemaliger Titelträger, der wie so viele Boxer vor ihm auch das Opfer der eigenen Großmäuligkeit wurde, die zwar wunderbar zu Vermarktung dient, leider aber keine Kämpfe gewinnt und im Gegenteil dazu die Erwartungshaltung oft zu hoch schraubt. Es bleibt eine halbherzige Taktik, die sich am Ende zwar als vielschichtig, aber nicht zu Ende gedacht erwiesen hat. Musterhaft dafür der Versuch, der bekannten Foultaktik des Gegners durch konsequentes Fallenlassen, Meckern und Ringrichter anstarren zu unterbinden, was die Gefahr bietet, zu übertreiben, womit auch das Anzählen gerechtfertigt war. Zudem lenkte sie von der eigentlichen Aufgabe ab.
Zu dem unglücklichen Bild, was Haye abgegeben hat, gehörte leider auch die Verletzungsnummer, die natürlich sofort im Verdacht steht, eine billige Ausrede zu sein. Zu Recht. Nicht, dass das ein Beobachter beurteilen kann. Es ist aber schlichtweg dämlich mit so einer Verletzung in den bedeutsamsten Kampf seiner Karriere zu gehen, wobei Haye wahrscheinlich aufgrund seiner Großmäuligkeit vor dem Kampf gar nicht anders konnte, denn eine Absage vor dem Kampf hätte ihn erst recht zum Gespött der Boxfans gemacht. Vielleicht hat Haye jetzt begriffen, dass Trashtalking eben nicht nur den Gegner unter Druck setzen kann, sondern dass man sich u.U. selbst damit in eine taktisch schwierige Lage bringt.
Auf eine gewisse Weise haben beide Boxer bei dem Kampf verloren. Wladimir wird nach diesem Arbeitssieg weiterhin die Anerkennung oder gar Bewunderung von vielen Boxfans verwehrt bleiben und Haye muss sich mit seinen Millionen darüber wegtrösten, trotz eines tollen Defensivfeuerwerks seinen Ruf als Großmaul deutlich gefestigt zu haben.
Beider Leistung wird aber wie so oft noch von einigen Leuten hier im Online-Scoring unterboten, die aus persönlichen Vorlieben einen Kampf gesehen glauben haben, der so nicht stattgefunden hat.