Ich habe lange überlegt, ob ich das unter meinem normalen Benutzernamen posten soll oder nicht. Immerhin ist es verdammt persönlich, und ein paar Sachen sind so persönlich, daß ich lieber die Anonymität eines Internetforums nutze, um sie nicht mit meinem normalen Benutzernamen in Zusammenhang zu bringen. Also habe ich mich dazu entschlossen, den Weg von Ex-depressiv zu gehen, der einen unglaublich starken Beitrag verfaßt hat.
Ich litt in meinen Teenager-Jahren jahrelang an Depressionen und war mehrere Male kurz davor, mich aus meinem Leben zu verabschieden. An einem Punkt hatte ich bereits Abschiedsbriefe für meine Familie vorbereitet. Der „Grund“ (wenn es denn diesen einen entscheidenden Grund geben sollte) für meine Depressionen war wohl meine angeborene körperliche Behinderung (mein rechter Arm fehlt ab dem Ellbogen).
Als Kind war das kein Problem für mich, ich spielte ungefähr bis zu meinem zwölften Lebensjahr Fußball in einem Verein und fühlte mich „normal“. Das hat sich dann irgendwann geändert. Ich wurde in der Schule wegen meines Handicaps gemobbt, die Lehrer waren daran entweder nicht interessiert oder konnten nichts an der Situation ändern. Ein Schulwechsel hat zwar das Mobbing beendet, aber meine Gefühlswelt nicht verbessert. Ich wollte meine Behinderung irgendwann nicht mehr täglich zur Schau stellen, wollte so wenig raus wie möglich und hab mich mit meinen dunklen Gedanken zuhause verkrochen. Besonders hart war es im Sommer: T-Shirt-Saison. Dann fühlte ich mich ein Tier im Zoo, das begafft wird und auf das Kinder mit dem Finger deuten und ihre Eltern fragen, warum der Junge dort drüben anders ist.
Man stumpft psychisch irgendwann total ab. Man sitzt alleine zuhause und stellt sich Fragen wie „warum sollte ich weitermachen? Würde es irgendwen interessieren, wenn ich morgen nicht mehr da wäre?“ Das sind sehr machtvolle Gedanken, man sieht die Welt mit anderen Augen. Viele Hobby-Psychologen werden seit Enkes Selbstmord nicht müde, zu betonen, daß Depressive „nicht mehr rational denken können“. Dem kann ich nicht ganz zustimmen. Wenn man lange über Selbstmord nachdenkt (und glaubt mir: das habe ich), denkt man sehr wohl darüber nach, wie man es anstellt und welche Konsequenzen diese Entscheidung mit sich zieht. Ich habe es nie in Betracht gezogen, mich vor einen Zug zu werfen oder mich aus einem Fenster zu stürzen. Man denkt tatsächlich daran, daß es arme Leute gibt, die die Sauerei dann wegmachen dürfen. Ich hab zumindest daran gedacht.
Es ist mir auch ein Bedürfnis, anzumerken, daß es erschreckend einfach ist, sein tägliches Umfeld zu täuschen. Viele können sich auch am Beispiel Enke nicht vorstellen, daß es durchaus möglich ist, Depressionen vor seiner Familie, Freunde, Kollegen etc. über einen längeren Zeitraum hinweg geheimzuhalten. Ich würde es auch nicht glauben, wenn ich die Erfahrung nicht selbst gemacht hätte. Aber ich hatte kein Problem damit, ein Lächeln aufzusetzen und zu betonen, daß es mir gut geht, obwohl es mich innerlich zerrissen hat. Es hat auch sehr lange gedauert, bis ich mich anvertraut habe. Das halte ich im Nachhinein auch für sehr kritisch: man denkt, daß dir nichts und niemand helfen kann. Gleichzeitig hat man auch Angst, daß alle erfahren, wie du „so drauf bist“. Das ist eine furchtbare Kombination. Ich hatte Schlafstörungen. Irgendwann habe ich mich dem Alkohol zugewandt.
Was Medikamente angeht: ich habe nichts davon gehalten. Die Vorstellung, „künstlich glücklich“ gemacht zu werden, hat mich damals abgeschreckt. Ich habe immer artig gesagt, sie geschluckt zu haben, stattdessen habe ich sie entsorgt. Mir hat aber geholfen, über meine Seelenwelt zu sprechen. Gar nicht so sehr mit Therapeuten (und ich hatte viele Sitzungen bei verschiedenen Therapeuten, ohne mich besser zu fühlen … vielleicht weil ich den Grund für meine Depressionen kannte und ein Therapeut da nicht mehr viel herauskitzeln konnte), aber gegenüber meiner Familie und vor allem meinen Freunden offen sagen zu können, wie ich mich fühle, war für mich wie eine Erlösung. Mein Umfeld war glücklicherweise sehr stark und geduldig mit mir. Meine Freunde haben mich aus dem „Schneckenhaus“, wie es Arielle recht treffend formuliert hat, herausgerissen und mir langsam Selbstvertrauen zurückgegeben. Sie nahmen mir das Gefühl, „anders“ und „wertlos“ zu sein. Meine damalige Freundin, die ich mitten in einer meiner schlimmsten Krisen kennengelernt hatte, hat auch einen Löwenanteil daran, daß ich heute sagen kann, daß es mir gut geht.
Das war meine Notbremse: mich meinen Mitmenschen zu öffnen und die Schutzwand einzureißen, die es mir vorher verboten hatte, offen und ehrlich mit ihnen darüber sprechen zu können. Hätte ich das nicht getan … ich weiß nicht, ob ich heute noch hier wäre. Ich fühle mich seit vielen Jahren jetzt sehr gut und ich bin heute glücklich und dankbar, daß ich wieder Lebensfreude getankt habe. Ich kann mich heute auch an sehr kleinen Dingen erfreuen, wie einen netten Song oder einen Freund, den ich länger nicht gesehen habe und der sich wieder mal meldet. Natürlich gibt es auch heute noch schwere Tage, die Behinderung ist ja schließlich ein Dauerzustand. Aber heute gehe ich aus dem Haus und zeige dem Teil der Welt, der sich an meiner Behinderung stört, den sprichwörtlichen Mittelfinger. Ich bin, wie ich bin. Dass ich mich heute so akzeptieren kann, ist für mich ein kleines Wunder, wenn ich an die dunklen Gedanken denke, die ich damals hatte. Meine Behinderung schränkt mich auch beruflich nicht ein.
Ich habe oben schon geschrieben, daß ich lange nichts gesagt habe, weil ich mich geschämt habe, depressiv zu sein. Enke ging es ja offenbar ähnlich, und das ist auch ein Verdienst unserer Gesellschaft. Deisler wurde nach seinem Rücktritt als Weichei beschimpft und wenn ein Teenager heute depressiv ist, wird das als „emo“ bezeichnet und belächelt. Die Gesellschaft muß Depressionen endlich ernst nehmen und als Krankheit sehen, denn genau das ist es.
So, das ist jetzt viel länger geworden, als ich eigentlich wollte. Aber die geschmacklose Presse und die Hobby-Experten, die sich in diesem Thread schlau machen wollen und unglaublichen Mist produzieren, haben mich dazu verleitet, diesen Post zu verfassen. Niemand, wirklich NIEMAND, der von Depressionen verschont geblieben ist, weiß ansatzweise, wie man sich in dieser Situation fühlt. Vielleicht ist dieser Post ein kleiner Denkanstoss.