Ich finde diese ganze Diskussion, dass das HW selbst jetzt schwach besetzt sei im Vergleich zu den 1990ern, irgendwie nicht zutreffend (ich hole die Diskussion mal hier rüber).
Wenn ich mir den Anfang der 1990er angucke, dann haben wir da mit Tyson einen Dominator, der alles weghaut und das schon seit 1986 (und zuvor hatte jahrelang Larry Holmes alles besiegt). Also tendenziell null Spannung. Dann verliert Tyson gegen Buster Douglas und geht anschließend in den Knast. Es kommt etwas Bewegung auf. Es gibt mit Holyfield, Foreman und Bowe drei wirklich solide Contender, wobei Big George eher als Außenseiter gilt. Gute Kämpfe in dieser Zeit sind Holyfield gegen Foreman und dann natürlich die drei Schlachten von Holyfield gegen Bowe.
Zwischenzeitlich taucht mit Michael Moorer ein weiterer Contender auf, der aus dem LHW aufsteigt und dem auch nur Außenseiterchancen eingeräumt werden. Er kann Holyfield besiegen und wird WM, verliert den Titel aber gegen George Foreman. In der zweiten Reihe gibt es in dieser Zeit (seit Anfang der 1990er) einige gute Kämpfe mit Tommy Morrison, Ray Mercer, Michael Bent, Michael Dokes, Frank Bruno und anderen. Wobei man auch hier sagen muss, dass bspw. Mercer bei den Profis nie das halten konnte, was man sich von ihm versprochen hatte.
Zudem fliegt seit Anfang der 1990er Lennox Lewis unter dem Radar, der aber selbst Mitte der 1990er Jahre noch wenig Beachtung findet, da er zum einen gegen einen Sparringspartner von Tyson KO geht und andererseits keine Kämpfe bekommt (zumindest ist das die Erzählung). Ein weiterer interessanter Contender taucht mit Andrew Golota auf. Dieser sorgt immer für spannende Kämpfe, hat aber seine Nerven nicht im Griff. Trotzdem beendet er Mitte der 1990er Riddick Bowes kurze Prime.
1995/96 kehrt Tyson dann zurück. Wenn ich jetzt mal den Zeitraum von 1990-1995 Revue passieren lasse, dann sehe ich da außer den drei Schlachten zwischen Holyfield und Bowe sowie dem Kampf zwischen Foreman und Holyfield (mit Abstrichen) keine wirklich großartigen Kämpfe. Klar, es gibt Kämpfe wie Cooper gegen Moorer oder Holyfield gegen Dokes, aber das sind für mich definitiv keine all-time-greats, die auch heute noch für "Ahs" und "Ohs" sorgen. Dies trifft nur für den Kampf von Moorer gegen Foreman zu, in dem Foreman die Überraschung gelingt und er nach zwei vergebenen Anläufen ältester WM im HW wird. Zudem würde ich noch Tysons erste Niederlage nennen.
1996/1997 kommen dann die beiden Kämpfe zwischen dem mittlerweile out-of-prime-Tyson und Holyfield. Sportlich für mich äußerst unschön anzuschauen bleibt eigentlich nur der Ohrbiss im Gedächtnis. Im Anschluss boxt sich Tyson gegen schwächere Gegner durchs Schwergewicht, es tauchen zudem seit Mitte der 1990er neue Contender wie Rahman, Botha, Tua oder auch Shannon Briggs auf, bei denen allen aber klar ist, dass sie nicht das Zeug dazu haben, das HW zu dominieren bzw. dauerhaft ganz oben mitzumischen.
Mittlerweile hat sich aber Lennox Lewis nach oben geboxt und kriegt 1999 seinen ersten großen Kampf gegen Holyfield. Wenige Kämpfe zuvor hatte er gegen Briggs gekämpft, ein Kampf, der definitiv großartig ist in meinen Augen. Die beiden Kämpfe von Lewis und Holyfield sind aber jetzt auch keine epischen Schlachten und so enden die 1990er im Endeffekt, als ein prime Lewis den komplett abgehangenen Tyson aus dem Ring prügelt.
Ich kann insgesamt in den 1990ern nur wenige wirklich großartige Kämpfe sehen, abgesehen von den oben genannten (wobei man aber auch hier nochmal sortieren bzw. entscheiden muss, welche dieser Kämpfe denn wirklich all-time-greats sind). Im Gegensatz dazu haben wir mit AJ-Klitschko und Wilder-Fury innerhalb sehr kurzer Zeit zwei wirklich tolle Kämpfe gesehen und haben eine Gruppe von drei bzw. vier Boxern, die absolut auf Augenhöhe sind und bei denen eigentlich jeder Kampf 50:50 ist (Fury, Wilder, AJ und mit Abstrichen Ortiz). Ich sehe in den 1990ern zu keinem Zeitpunkt eine solche Leistungsdichte von Athleten, die alle in ihrer prime sind und alle ungefähr gleichstark auf höchstem Niveau. Deshalb ist für mich dieses Gehype der 1990er zu einem Großteil Verklärung und Nostalgie ("früher war alles besser"), die einer Überprüfung nicht standhält. Nie gab es dort zur gleichen Zeit eine solche Leistungsdichte an Top-Boxern in ihrer prime. Als Lewis Tyson boxte, war dieser schon komplett durch, als LEwis Holyfield boxte, war dieser ebenfalls schon deutlich auf dem absteigenden Ast, als Holyfield Tyson boxte, war dieser auch schon past-prime usw.
Deswegen bin ich der Meinung, dass man wirklich dankbar und andächtig sein sollte, dass man sowas wie gerade miterleben darf. Das ist in meinen Augen alles andere als selbstverständlich und kommt auch nicht so oft vor, wenn ich mir die vergangenen 35 Jahre Schwergewichtsboxen anschaue.