Ganz schwer zu sagen. Bei Fury weiß ich noch immer nicht, wie ich ihn werten soll. Zwar sehe ich ihn als derzeitige Nr. 1 an. Aber mich beschleicht das Gefühl, dass es da draußen für ihn eine Nemesis gibt. Sowohl bei Wilder als auch bei Joshua hatten einige Betrachter den gleichen Eindruck wie beim jungen Wladimir Klitschko. Neben Licht gab es Schatten zu erkennen. Mit den Verdachts- und Erkenntnismomenten gab es zugleich auch das Gefühl, dass irgendwann der Gegner kommt, der ihn mit klassischen Mitteln entzaubert. Bei Klitschko war das Sanders. Bei Joshua war das Ruiz Jr. im ersten Kampf, bei Wilder waren das schon mehrere Boxer, zuende geführt hat das dann Fury. Und bei Fury? Zwei Kämpfe haben Furys Probleme aufgezeigt: Cunningham hat Fury ausgeboxt. Zwar hat Fury den Kampf gewonnen. Zwei Punkte waren dabei entscheidend. Cunningham hat sich bei dem Versuch Fury zu finishen verausgabt. Fury hat es nicht boxerisch gelöst, sondern Cunningham körperlich erdrückt. Clever, boxerisch keineswegs überzeugend. Seltsamerweise war es gerade auch Otto Wallin, der mit klassischen boxerischen Mitteln Fury überraschend geärgert hat. Nicht, dass Fury den Kampf nicht klar gewonnen hat, sah dabei aber im manchen Runden sehr sehr durchschnittlich aus. Fury hat eine hohe Boxintelligenz, Fury strahlt eine ungeheuere Ruhe aus und ist taktisch clever, aber boxerisch ist er nichts besonderes.
Vitali ist boxerisch der variabelere Mann, er hatte eine enorme Workrate und boxt einen sehr unangenehmen Stil. Zudem hat er eine ungeheuere Ringpräsenz. Aber: Sein körperlich ungesunder Stil macht ihn verletzungsanfällig. Er ist eher langsam auf den Beinen, und schnelle bewegliche, sprich slicke Boxer liegen ihm gar nicht. Fury ist zwar flott für seine Größe, slick würde ich ihn aber nicht nennen.
Vitali sah gegen ähnlich große Gegner zuweilen insoweit nicht gut aus, dass er doch viel genommen hat, Cut-Anfälligkeit inklusive.
Vitali hätte den Kampf zu Fury getragen. Da, wo Wladimir Klitschko stehen gebleiben ist und es Fury erlaubt hat, den Kampf neu aufzubauen, da wo Wilder es beim Alibi-Jab und dem Lauern auf den gefährlichen Heumacher belassen hat, wäre Vitali eisern an den Mann gegangen und hätte geschlagen, geschlagen und noch einmal geschlagen. Gut möglich, dass Fury in diese Aktionen reingekontert hätte und Vitali sich einen Cut oder einen Knockdown gefangen hätte. Es ist aber ebenso gut möglich, dass Fury nicht die Zeit für seine Pausen gefunden hätte und dabei zuviel selbst hätte nehmen müssen. Man darf nie vergessen, dass Vitali ein Zermürber war, der die Gegner über die Vielzahl der Treffer den Schneid abgekauft hätte. Ebenso darf man nicht vergessen, dass auch Fury schon Cuts durch Schlagwirkung erlitten hat. Außerdem habe ich bei Fury nur körperliche Präsenz und Reinhängen bei körperlich unterlegenen Gegnern gesehen. Vitali ist ein ähnlicher Brocken und wenn der aus der Habdistanz und im Infight loskeilt, dann sehe ich zwar bei Fury die Ringintzelligenz und die Übersicht, damit umzugehen, ich sehe aber nicht (noch nicht) die körperliche Präsenz eines Lennox Lewis da Fuß an Fuß mitzugehen. Ein Fury der sich nur auf schnellen Beinen als Zitteraal zu retten sucht, wird es auf neutralen Punktzetteln damit eher schwer haben. Zwar kann man Joshua nicht mit Vitali vergleichen, aber ich bin gespannt wie sich Fury aus der Affäre zieht, wenn Joshua sein Offensivarsenal zur Entfaltung bringen kann. Dann wird man schlauer sein.
Im Ergebnis wäre ein TKO-Sieg von Fury durch Cuts ebenso denkbar wie ein Zermürbungssieg durch Vitali, wobei auch dort Cuts eine Rolle spielen könnten. Für einen echten KO sehe ich auf beiden Seiten kaum Anzeichen. Vitalis Kinn ist sehr solide, Furys Kinn halte ich für schlechter, seine Regenerationsfähigkeiten sind aber hervorragend. Beider Punch ist hingegen nicht überragend. Nach Punkten sehe ich Vitali klar vorne, weil er mit seiner Workrate Furys Showboating-Scheinperformance nicht zur Entfaltung kommen lässt. Es kann aber sein, dass ich diese Bewertung nach einem Kampf zwischen Fury und Joshua bzw. Fury und Usyk noch einmal überdenken muss. Ich würde Fury gerne mal gegen einen Gegner sehen, der mit stoischer Ruhe in brauchbar hoher Frequenz einigermaßen variabel schlägt. Wilder wird das auch im dritten Kampf wohl nicht bieten können, so etwas sehe ich eher bei Usyk und Joyce.