The Irishman
Konnte ihn gestern im Kino sehen und wurde nicht nur nicht enttäuscht, sondern, trotz meiner gigantischen Erwartungen, regelrecht umgehauen.
Vorab: ich habe das Buch gelesen und als die ersten Gerüchte aufkamen, dass Scorsese, mit gigantischem Netflix-Budget im Schlepptau, eine Adaption auf die (heimischen) Leinwände plant, war ich regelrecht aus dem Häuschen. Aber nicht nur dreht der Altmeister einen Film, dessen Grundlage eines meiner Lieblingsbücher ist, nein, dazu versammelt er die gesamte Riege um De Niro, Al Pacino (ENDLICH) und JOE PESCI?!
Neben Fincher ist Scorsese mein absoluter Lieblingsregisseur, Goodfellas wahrscheinlich mein Lieblingsfilm und (der alte bzw. junge - haha) De Niro wohl mein Lieblingsschauspieler. Bei diesem inflationären Gebrauch von "Lieblings-" liegt es nahe, dass meine Erwartungshaltung sich in schwindelerregenden Sphären befunden hat.
Weiterer Disclaimer: Der Film ist ein regelrechter Schinken, der mit seinen 209 (!) Minuten Laufzeit - ganz im Stile von Once Upon A Time In America - das ein oder andere Sitzfleisch massiv überstrapazieren dürfte. Genauso wird jeder enttäuscht sein, der bildgewaltige Action und einen fesselnden Spannungsbogen erwartet oder gar kurzweilige Unterhaltung sucht. An alle Anderen: Anschauen und ja, auch wenn der Film ab dem 27.11 auf Netflix zu sehen ist, lohnt sich der Kinogang uneingeschränkt! Ich kann mir dieses Epos nur schwerlich auf einem mittelgroßen Flatscreen im Wohnzimmer vorstellen.
Nun aber zum Film
Was Scorsese da fabriziert hat, ist auf die eine Art alles schon mal dagewesen, auf der anderen Seite aber gänzliches Neuland. Gangsterklischees finden sich in Hülle und Fülle. Sei es der schmierige Zwischenhändler, die Entsorgung der Tatwaffe oder die Frequenz, mit der der Name Tony zu hören ist. Was ist daran neu? Die Inszenierung dieser Aspekte.
The Irishman nimmt die klischeebehafteten Gangsterpraktiken und die damit verbundenen Charaktere aufs Korn, ohne dabei ins Lächerliche oder zu sehr Karikaturistische abzudriften. Das sorgt neben etwas Auflockerung auch für eine Reflexion des Milieus und erdet das Ganze ein wenig.
Zu der Story möchte ich hier nicht viel verlieren. Nur so viel: es gibt nicht wirklich einen stringenten und konsistenten Handlungsstrang. Viel mehr werden unterschiedliche Zeitebenen, die nur selten durch angeschnittene Events auf ein konkretes Jahr oder einen Zeitraum verweisen, miteinander verwoben und erzählen so das Leben des Protagonisten Frank Sheeran, mit seinen Höhen und (deutlich prägnanteren) Tiefen. Auch das ist bestimmt nicht jedermanns Sache, macht hier aber großen Sinn.
Was ist jetzt also das Besondere an diesem Film? Die Entmystifizierung des Gangster-Daseins und die schonungslose Darstellung des körperlichen, moralischen und psychischen Verfalls der involvierten Charaktere.
Gangster zu sein ist weder so cool wie in
Goodfellas noch so romantisch wie in der
Godfather-Trilogie. Auch ist es nicht so glamourös wie in
Casino oder so pathetisch wie in
American Gangster. Viel mehr ist es ein dreckiges Geschäft, bei dem Ehre und Loyalität nur so lange existierende Konzepte sind, wie sie den Gangstern dabei behilflich sind, ihre (zumeist perfiden) Ziele zu erreichen. Auch Wohltätigkeit und Fürsorge werden nur sporadisch praktiziert.
Sind Ikonen des Milieus es in der Regel gewohnt, zu Popstars stilisiert zu werden, werden sie hier vor die Tatsache gestellt, dass ihre Existenzen genauso vergänglich und teils unbedeutend sind, wie die von "normalen" Teilnehmern der Gesellschaft. Selbst betrachten und empfinden sich die Gangster gerne als Legenden, besitzen aber kaum größere Relevanz als der Gauner von nebenan. Sehr treffend wird dieser Umstand in einer Szene dargestellt, in der Frank, altersmilde und sichtlich mitgenommen von seiner Historie, über alten Fotografien aus seiner Hochzeit schwelgt und sie der behandelnden Pflegekraft zeigt. Neben seiner Familie deutet er auf seinen Freund, ehemaligen Gewerkschaftsboss und Partner in Crime, Jimmy Hoffa und fragt dabei tendenziell rhetorisch, nachdem die Frau vorherige Personen nicht erkannt hatte, "but you do know HIM!?".
Nein, selbst der große Jimmy Hoffa besitzt keine Relevanz für die Gesellschaft und ist außerhalb des Milieus lediglich eine Randnotiz. In dieser Szene wird auch das in dem Milieu so präsente und vorherrschende Patriarchat, das während des Films permanent unterschwellig mitschwingt, entkräftet. Scorsese schenkt den weiblichen Charakteren auffallend wenig Screentime, nutzt sie dafür aber punktuell sehr intensiv und nachhaltig.
Überhaupt zeigt der Film eines besonders klar auf: Gangster sein ist
*** und am Ende sind alle genauso einsam und hilfsbedürftig wie John Doe aus der Nachbarschaft. Der oft unausweichliche Abgang ist zumeist auch weder heroisch und dabei eher, diplomatisch formuliert, unangenehm.
Ein Großteil der Figuren wird direkt bei der Einführung mit einem Einblender versehen, auf dem die spätere Todesursache geschildert wird (
shredded by a nail bomb under his porch in 1980), was immer wieder subtil verdeutlicht, dass man als Gangster selten ein schmerz- und gewaltloses Ende findet. Eine Ausnahme gibt es dann aber doch und die fügt sich glänzend in die auch sonst präsenten, aber immer wohl dosierten Humorspitzen ein, wie man es auch von den meisten Scorseses kennt.
Nun aber zum Prunkstück des Films, dem (
Trommelwirbel) Cast. Die im Vorhinein heißdiskutierte Verjüngungstechnik fälllt bei den alten Haudegen selten auf und wenn, dann selten störend, was aber auch kein Wunder ist, wenn man bedenkt, dass die Darsteller den Großteil des Films lediglich um die zwanzig Jahre verjüngt werden. Was hier darstellerisch geboten wird, ist aber ohne wenn und aber absolutes Weltklasse-Niveau. Man merkt Pacino und De Niro sichtlich an, mit wie viel Leidenschaft und Spaß sie hier bei der Sache sind. Bedenkt man, dass beide stark an der 80 kratzen, kann man vor dieser Performance nur den Hut ziehen. Bei den Nebendarstellern, die ausnahmslos perfekt besetzt sind, gibt es ebenso nur Grund zum Applaudieren. Dass ein Harvey Keitel kaum mehr als fünf Minuten Screentime bekommt, spricht Bände über die Qualität des Casts. Besonders im Gedächtnis geblieben sind mir Bobby Cannavale und Jesse Plemons, aber das soll die anderen Leistungen in keinster Weise schmälern.
Mein persönliches Highlight war aber wieder mal Joe Pesci. Den leichtfüßigen und gleichzeitig immer Gefahr ausstrahlenden Charakter verkörpert wohl niemand so gut wie er. Wie auch immer es De Niro und Scorsese geschafft haben, Pesci zu seinem erst dritten Film in diesem Jahrhundert zu überreden, ist mir egal. Danke! Neben dem grandiosen Cast fällt kaum auf, wie gut die Kamera und der Schnitt in diesem Film sind. Auch hier absolutes Spitzenniveau.
Beim Score bedient sich Scorsese ausnahmsweise einmal nicht bei den Stones, sondern setzt eher auf atmosphärische Melodien. Im Gesamtpaket passt das einfach alles.
Irgendwie ist
The Irishman eine Hommage an die Mafia, ein Abgesang auf das Gangstertum und gleichzeitig ein gefühltes Endwerk und letzter Beitrag von Scorsese zu diesem Genre. Dieser Film wird viele enttäuschen, da bin ich mir recht sicher. Er ist kein
Goodfellas und kein
Godfather. Trotz der Spielzeit kommt hier nie das Gefühl auf, bei etwas Großem, ja bei einem zeitlosen Epos dabei zu sein. Dafür wird man aber wohl nie wieder die Vergänglichkeit und die mittelbare Belanglosigkeit der Figuren dieses Milieus derartig intensiv und virtuos dargestellt erleben können.
10/10