Es geht dabei nicht um ein Haar in der Suppe von Kamil Stoch. Ich will versuchen, es an zwei Beispielen zu erklären. Das erste hat mit Jens Weißflog zu tun, das zweite mit Sven Hannawald.
Aber zunächst ein paar allgemeine Worte: Um die Sportart Skispringen wirklich interessant zu finden, muss man sich eigentlich auch für die Springer aus dem Mittelfeld interessieren. Denn ansonsten sitzt man im Zweifel erstmal eine halbe Stunde davor und langweilt sich, wenn man bloß auf die Rop-Leute wartet. Zum Glück sind im Skispringen auch die Mittelfeldspringer interessant - denn die Mittelfeldspringer von heute sind möglicherweise die Topspringer von gestern - oder morgen!
Aus meiner Sicht sind es zwei Punkte, die die Skispringer interessant machen: Geschichten und Statistik (oder storys and statistics, wie der Mathematiker
John Allen Paulos in etwas anderem Zusammenhang schreibt). Beides sollte man im Sport aber nicht getrennt betrachten: Geschichten und Statistik sind die beiden Seiten einer Medaille.
Jens Weißflog, der wohl größte deutsche Skispringer aller Zeiten - und der Springer, der mich am ehesten zum Skisprunganhänger gemacht hat, hat hier in Bischofshofen den ersten Weltcupsieg seiner Karriere gefeiert (Statistik) - aber genau diese Schanze sollte auch ein bisschen eine Schicksalsschanze in seiner Karriere werden. In den beiden Jahren nach seinem Weltcupsieg lief es großartig für ihn, da gewann er beide Male die Tournee - leider war ich damals noch zu klein, um es zu verfolgen. In den nächsten Jahren waren dann andere besser, allen voran Ernst Vettori und Matti Nykänen (Geschichte).
Doch in der Saison 1988/89 war Jens Weißflog wieder groß im Geschäft; er führte nach Innsbruck die Tourneewertung an. Zu diesem Zeitpunkt hatte es in der 36jährigen Geschichte der Tournee gerade einmal zwei Springer gegeben, die die Tournee mehr als zweimal gewinnen konnten: Helmut Recknagel und Björn Wirkola (Statistik). Aber in Bischofshofen sollte sich das Blatt wenden, da verlor Jens Weißflog sie an den Finnen Risto Laakkonen, der dort nicht einmal besonders gut sprang - aber eben immer noch besser als Weißflog.
Einen weiteren Angriff startete Weißflog im folgenden Jahr; auch in der Saison 1989/90 führte er die Tourneewertung nach Bischofshofen an - doch erneut konnte er sie nicht gewonnen. Gut, in jenem Jahr war es immerhin Dieter Thoma, der sich stattdessen den Sieg holte. Und für Jens Weißflog sollte es dann in der Saison 1990/91 zum dritten Sieg reichen - wenngleich er auch in jenem Jahr in Bischofshofen nochmal über 30 Punkte verlor. Endlich gehörte auch Weißflog zum erlesenen Kreis der Springer, die die Tournee dreimal gewonnen hatten. Aber Weißflog wollte mehr: Er wollte der erste sein, der sie viermal gewinnt! (Statistik)
Doch es sah so aus, als sollte sich dieser Traum nicht erfüllen. Denn mittlerweile hatte der V-Stil seinen Siegeszug begonnen - aber möglicherweise sorgten gerade Weißflogs Erfolge dafür, dass er diesen Trend zunächst mal verschlief. Zwar hatte bereits zwei Jahre zuvor Jan Boklöv den Gesamtweltcup im V-Stil gewonnen; aber bei der Tournee triumphierten noch die Parallelstil-Springer - und so sah Weißflog keinen Grund, sich umzustellen. (Geschichte)
Aber nachdem die FIS im Sommer 1991 die Abzüge für die V-Stil-Springer abgeschafft hatte, war der Bann gebrochen; viele gute Springer erlernten nun auch den V-Stil - und Weißflog fand sich auf einmal im Mittelfeld wieder. Natürlich lernte auch er dann um, aber die anderen Springer hatten einen Vorsprung, und es sah zunächst nicht so aus, als könne er ihn wettmachen. Seine erfolgreiche Karriere schien sich dem Ende zuzuneigen. Aber er schaffte es doch! (Geschichte)
In der Saison 1993/94 war Weißflog wieder da; gemeinsam mit Espen Bredesen dominierte er den Weltcup, wieder einmal führte er die Tournee nach Innsbruck an. Heute wird Innsbruck gern als Schicksalsschanze der Deutschen bezeichnet... für Jens Weißflog war es zweifellos Bischofshofen. Denn zum dritten Mal (er ist der einzige Springer, dem dies mehrmals passierte [Statistik]) verlor er dort die Tourneeführung - die Umstände sind bekannt (Geschichte).
Dennoch hatte die Saison für ihn ein versöhnliches Ende; denn bei den Olympischen Spielen gewann er die Goldmedaille von der Großschanze; er ist der einzige Springer, der sowohl im Parallelstil als auch im V-Stil Olympisches Einzelgold gewinnen konnte (Statistik) - und wahrscheinlich war es dieser Erfolg, der ihn dazu brachte, seinen Rücktritt zu erklären. Denn damit hatte er allen Kritikern noch einmal gezeigt, dass er immer noch einer der besten Springer der Welt war.
Aber das bedeutete auch, dass der Traum vom vierten Tourneesieg immer einer bleiben würde... und vielleicht war es genau das, was Weißflog dann dazu brachte, vom Rücktritt zurückzutreten und seine Karriere fortzusetzen.
Schließlich kam die Saison 1995/96 - der Überflieger der ersten Wochen war der Finne Mika Antero Laitinen, doch in Oberstdorf war Jens Weißflog dicht dran. Dass Laitinen dann verletzungsbedingt ausfiel, hat die Chancen Weißflogs sicher erhöht; und nach Innsbruck war der Vorsprung komfortabel. Aber es kam eben noch die Schanze in Bischofshofen - doch diesmal endlich gelang es: Jens Weißflog gewann nicht nur die Tournee (als erster Springer zum vierten Mal [Statistik]), sondern holte auch noch den Tagessieg in Bischofshofen und machte so seinen Frieden mit dieser Anlage (Geschichte).
Für mich ist dieser Sieg (einer von nur zwei deutschen Tourneesiegen, die ich wirklich bewusst miterlebt habe) immer noch einer der ganz großen Momente der Skisprunggeschichte überhaupt.
Und dann kam Janne Ahonen! Der Finne gewann die Tournee bekanntermaßen fünfmal - und irgendwie nahm er damit diesem Moment, der mir so wichtig war, einen Teil seiner Besonderheit. Weißflog war nicht mehr einzigartig bei der Tournee... er wurde sogar übertrumpft (Statistik). Und wenn man bedenkt, wie knapp das war - hätte nur ein einziger Sprungrichter in 8 Sprüngen Janne Ahonen einen halben Punkt weniger gegeben, dann hätte er nicht mehr Tourneesiege als Jens Weißflog (Geschichte). Diese beiden Tourneen, in denen Ahonen mit Weißflog gleichzog und ihn schließlich übertrumpfte, gehören für mich wirklich zu den deprimierendsten Momenten in der Skisprunggeschichte. Dass Ahonen außerdem noch Martin Schmitt den Rekord der meisten Weltcupsiege in einer Saison nahm, dass er Weißflog und Schmitt auch bei der Anzahl der Weltcupsiege übertraf, dass er die Tournee gewann, bei der erstmals Innsbruck zur deutschen Schicksalsschanze wurde, kommt noch hinzu. Und so verbinde ich mit keinem Springer so viele Negativerlebnisse wie mit Janne Ahonen - und das ist letztlich der Grund, warum ich mich auch über seine anderen Erfolge nicht unbedingt gefreut habe.
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Aber wollte ich nicht eigentlich über Kamil Stoch schreiben?
Doch, aber in gewisser Weise ist das eine ähnliche Geschichte, und sie ist bekannter. Jens Weißflog war den Rekord der meisten Tourneesiege los - aber wir hatten dafür immer noch den großartigsten Tourneesieg von allen. Die Rede ist natürlich von Sven Hannawalds "Grand-Slam": Der große Mythos der Vierschanzentournee bestand ja darin, dass es 49 Jahre lang keinem Springer gelungen war, alle vier Wettkämpfe bei einer Tournee zu gewinnen. Einigen Springern war es gelungen, die ersten drei Springen zu gewinnen - aber keiner gewann das vierte (Statistik). Und ausgerechnet beim Jubiläumsspringen gelang es dann doch (Geschichte) - und der Springer, dem es gelang, war Sven Hannawald.
Ausgerechnet im Jahr vor Hannawalds Triumph war die Bergisel-Schanze umgebaut worden - es ist eine Ironie der Geschichte, dass der DSV damals sehr glücklich darüber war, denn man meinte, die neue Schanze sei den deutschen Springern auf den Leib geschneidert (Geschichte). Es war auch tatsächlich so: In Oberstdorf gewannen zu jener Zeit fast ständig deutsche Springer, in Garmisch-Partenkirchen und Bischofshofen zumindest immer wieder mal. Nur in Innsbruck hatte 18 Jahre lang kein deutscher Springer gewonnen (Statistik). Auf der umgebauten Schanze jedoch konnte Sven Hannawald den "Bergisel-Fluch beenden".
Sven Hannawald war immer ein etwas umstrittener Springer gewesen; es gab kaum jemanden, der ihm gegenüber neutral eingestellt war - ich meine, dass es im alten Rapidforum mal Umfragen zum beliebtesten und zum unbeliebtesten Springer gab, und Sven Hannawald landete bei beiden unter den ersten dreien. Und seine Gegner nutzten den Umbau der Bergisel-Schanze natürlich, um seinen Erfolg madig zu machen. Auf der alten Bergisel-Schanze wäre ihm dies nicht gelungen, hieß es; die Schanzen seien viel ähnlicher als früher und der "Grand-Slam" deshalb nicht mehr so schwer.
Um so befriedigender war es natürlich, als sich die Springer nach Hannawald dann wieder die Zähne daran ausbissen. Was habe ich 2004/05 gezittert, als ausgerechnet Ahonen lediglich drei Jahre später noch einmal nah dran war am "Grand-Slam"! Ja, so einfach war es auch auf den neuen Schanzen nicht, und die Erinnerung an diesen größten aller Tourneesiege tröstete in so manchem Jahr darüber hinweg, wenn die deutschen Springer wieder einmal keine Rolle im Kampf um den Tourneesieg spielten.
Aber ihr wisst, wie die Geschichte ausging: Dann kam Kamil Stoch! Es war in der Saison 2017/18 - der mit Abstand beste Springer der Vorweihnachtszeit war Richard Freitag, und zum ersten Mal seit langer Zeit war ich
wirklich optimistisch, dass endlich wieder einer unserer Springer die Tournee würde gewinnen können. Wie die Geschichte für Richard Freitag ausging, ist bekannt; bereits nach Innsbruck war das gemeinsam mit 1993/94 und 1998/99 die bitterste überhaupt. Aber dass Kamil Stoch dann auch noch in Bischofshofen die Einzigartigkeit von Hannawalds Tourneetriumph zerstörte, war das saure Sahnehäubchen.
Hinzu kam auch noch die Art und Weise, wie ich das im Forum subjektiv erlebt habe: Ich hatte ja geschrieben, dass Hannawald ein durchaus umstrittener Springer war. Jeder interessierte sich für ihn, sei es im positiven oder negativen Sinn. Bei den Polen war es umgekehrt: Für sie interessierte sich niemand (Geschichte). Man sieht das auch an den Nationenthreads im Forum: Der DSV-Thread hat die meisten Beiträge, er hat den Finnen-Thread, der immer noch auf Position 2 liegt, vor nicht all zu langer Zeit überholt. Der Norwegen- und der Österreich-Thread liefern sich einen heißen Kampf um den dritten Platz; darauf folgt Japan. Der Polen-Thread hat noch nicht einmal so viele Beiträge wie der Frankreich-Thread (Statistik)!
Und dennoch drückten auf einmal einige Leute hier Kamil Stoch die Damen, die sich bis dahin nicht als Stoch-Fans hervorgetan hatten. Für mich waren das keine Kamil-Stoch-Fans! Für mich waren das die alten Hanni-Hasser, denen es hauptsächlich darum ging, Hannawald die Einzigartigkeit seines "Grand-Slams" zu nehmen! Und noch schadenfroh dabei zuzuhören, wie er das selbst kommentieren muss! Die Skiflug-WM, bei der Richard Freitag ein paar Tage später seinen zweiten Platz auch wegen des Windes noch an Kamil Stoch verlor oder die WM in Seefeld, bei der Karl Geiger im zweiten Durchgang keine Chance hatte und stattdessen Stoch neben Kubacki eine große Aufholjagd startete kommen hinzu.
Ja, nach Janne Ahonen ist zweifellos Kamil Stoch derjenige Springer, mit dem ich die meisten Negativerlebnisse verbinde.
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Ein Tourneerekord ist aber noch in deutscher Hand! Oder zumindest in deutsch-norwegischer Hand! Jens Weißflog und Björn Wirkola haben die meisten
Tagessiege bei der Vierschanzentournee gefeiert - nämlich 10. Da kamen selbst Janne Ahonen und Gregor Schlierenzauer (jeweils 9) nicht mehr heran. Nun, Ahonen holt keinen mehr, bei Schlierenzauer würde es mich auch überraschen.
Kamil Stoch steht bei 7...
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Zur Sicherheit am Ende dieses Beitrags noch eine Klarstellung: Ich habe manche Punkte bewusst überspitzt dargestellt; insbesondere den Abschnitt über die nicht-vorhandenen Polen-Fans und die Hanni-Hasser. Ich weiß selbstverständlich, dass auch die Polen hier ihre Fans haben und dass man Kamil Stoch den Grand-Slam nicht nur wegen Hannawald gewünscht hat. Zum Schluss sei auch nochmal gesagt:
Sowohl Janne Ahonen als auch Kamil Stoch sind großartige Sportler und faire Sportmänner! Sie gehören definitiv zu den größten Springern aller Zeiten, und ohne sie wäre der Sport ärmer!