Aber er hat wohl auch nicht wirklich mit einem Laufevent gerechnet - statt mit Boxen.
Scull hat wie immer geboxt, also muss Canelo doch exakt mit dem Kampf gerechnet haben. Vielleicht hat der Mexikaner gedacht, dass Scull etwas offensiver agieren könnte, aber davon ausgehen durfte man nicht.
Indem man den Kampf sich ansieht (und das ohne Agonbrille). Scull hat - wie auch die Kommentatoren richtigerweise festgestellt haben, nichts getan, um den Kampf zu gewinnen, diese Alibischläge, die bestenfalls mal die Handschuhe Canelos gestreift haben, sind keine Schläge. Ich kann mich an 4(?) Treffer von Scull während des Kampfes erinnern, einen Uppercut, zwei Rechte, einen Körpertreffer.
Okay, Scull brachte viel den Jab, aber wir können uns ja rein die Powerpunch-Zahlen anschauen. Da müsste Canelo ja klar führen, weil Scull angeblich nichts tat.
Runde 1 = 1:0 Scull
Runde 2 = 5:2 Canelo
Runde 3 = 2:1 Canelo
Runde 4 = 4:3 Canelo
Runde 5 = 3:3
Runde 6 = 6:2 Canelo
Runde 7 = 5:5
Runde 8 = 6:1 Canelo
Runde 9 = 5:3 Canelo
Runde 10 = 3:2 Scull
Runde 11 = 2:2
Runde 12 = 8:2 Canelo
Man kann Canelo durchaus Vorteile in den Runden 2, 6, 8 und 12 zugestehen – aber darüber hinaus bringt er kaum nennenswerte Argumente im Kampf ein. Scull setzte tendenziell mehr Jabs und punktete mit seiner Beweglichkeit.
Die meisten Runden waren ausgeglichen – oft entschied letztlich ein einzelner Powerpunch über den Rundenausgang. Doch wie sollen das ernsthafte Argumente für Canelo sein? Ein einziger Powerpunch soll also ausreichen, um den Ausschlag für Canelo zu geben – und nicht für Scull?
Die Wahrheit ist doch, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird. Man ist von Scull enttäuscht, obwohl er als krasser Außenseiter einen überaus ausgeglichenen Kampf ablieferte und den Boxsuperstar Canelo phasenweise zur Verzweiflung brachte. In der öffentlichen Wahrnehmung galt Scull als Herausforderer – dabei war er in Wirklichkeit der ungeschlagene kubanische IBF-Weltmeister in diesem Vereinigungskampf. Dennoch wurde er wie die klassische b-side behandelt. Und genau deshalb wird implizit erwartet, dass
er mehr investiert und mehr riskiert als der große Name im Ring. Wenn beide wenig zeigen und sich größtenteils neutralisieren, heißt es am Ende:
Scull habe seine Chance nicht genutzt und den Sieg nicht gewollt.
Deshalb wird nun das Narrativ bemüht, Canelo habe wie ein moderner Rocky Balboa die Schlacht gesucht – während Scull mit seiner passiven Herangehensweise die Niederlage verdient habe. Dass sich in Wahrheit beide gegenseitig neutralisierten und keiner wirklich Akzente setzen konnte, wird dabei gerne ausgeblendet.
Ich finde, William Scull hat in diesem Kampf gezeigt, dass er selbst mit elitären Pound-for-Pound-Boxern mithalten kann – und für viele eine nahezu unlösbare Aufgabe darstellt. Hat es am Ende auf den Scorecards nicht gereicht, weil er zu wenig investierte? Ja. Will ich Scull noch einmal in einem WM-Kampf sehen? Nein. Aber: Er lieferte sich mit Canelo als krasser Underdog einen Kampf auf Augenhöhe.