1993 betrat ein neues italienisches Profi-Team die Bildfläche: Mecair-Ballan hieß die Mannschaft des bis dato nur im Amateurbereich tätigen sportlichen Leiters Emanuele Bombini. [...]Für das Jahr 1994 bediente sich Bombini aus der Masse der scheidenden Ariostea-Mannschaft und verpflichtete mit Giorgio Furlan, Bruno Cenghialta (beide Italien) sowie dem Dänen Bjarne Riis weitere Hochkaräter. Die Mannschaft startete nun unter dem Namen „Gewiss-Ballan“. Was dann folgte war eine selten zuvor gesehene Dominanz eines einzigen Profiteams:
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Bereits beim Giro 1993 mischte das Team die Weltelite mächtig auf: Der bereits 32-jährige Lette Pjotr Ugrumov belegte einen sensationellen zweiten Gesamtrang, lediglich 58 Sekunden hinter Miguel Indurain, welcher nur dank seiner Stärke im Einzelzeitfahren seinen zweiten Giro-Sieg nach 1992 festigen konnte. Bombini holte den Letten von der unbedeutenden spanischen Seur-Mannschaft nach Italien, doch niemand rechnete ernsthaft damit, dass Ugrumov das Feld in den steilen Rampen der Dolomiten so dominieren würde und damit Indurain in Bedrängnis bringen könnte.
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Besonders eindrucksvoll und aus Sicht der Konkurrenz niederschmetternd war das Ardennen-Double mit dem Flèche Wallonne und Lüttich-Bastogne-Lüttich: In einer Art und Weise, die zum damaligen Zeitpunkt ihresgleichen suchte, setzte sich das Gewiss-Trio Furlan, Moreno Argentin sowie der junge 24-jährige Russe Evgeni Berzin bereits 72(!) Kilometer vor dem Ziel in Huy beim Flèche Wallonne von der Konkurrenz ab. Spielerisch leicht zerfetzten sie das Feld in den Steigungen der Ardennen und liefen dabei nicht annähernd Gefahr, noch einmal von den Kontrahenten eingeholt zu werden. Der Sieger hieß gemäß Bombinis Teamorder Moreno Argentin. Der junge Berzin musste sich mit Platz 3 begnügen, doch sollte er nur Tage später zum großen Schlag ausholen dürfen. Bei Lüttich-Bastogne-Lüttich war kein Kraut gegen die Stärke des Russen gewachsen: Mit einem überragenden Vorsprung von 1:37 Minuten auf Weltmeister Lance Armstrong gewann er den Ardennen-Marathon über 268.5 Kilometer.
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Nach der Frühjahrs-Saison standen nun die großen Rundfahrten auf dem Programm: Sowohl beim Giro, als auch bei der Tour galt es, den Spanier Miguel Indurain vom Thron zu stürzen. Gespannt waren die Auguren natürlich auch auf die Gewiss-Mannschaft. Niemand jedoch traute ihnen so recht den großen Coup zu, da die Top-Form des Frühjahrs ja nicht über viele Monate anhalten könnte. Weit gefehlt, denn beim Giro d’Italia setzte Evgeni Berzin dann noch einmal einen drauf: Stark am Berg und schier unschlagbar im Zeitfahren – selbst Indurain, der jahrelang jedes Zeitfahren dominiert hatte, war chancenlos.
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Viele wollten nach dem Sieg Berzins beim Giro bereits einen Generationswechsel mitbekommen haben, doch bei der Tour de France, an der Berzin aufgrund des Bombini’schen „Jugendschutzprogramms“ nicht teilnahm, rückte Indurain die Verhältnisse wieder gerade, auch wenn er speziell in der letzten Woche von einem Fahrer geradezu deklassiert wurde: Dieser Fahrer war ein alter Bekannter und kein geringerer als Pjotr Ugrumov von Gewiss-Ballan. Beim Bergzeitfahren nach Avoriaz schenkte Ugrumov dem Spanier 3:16 Minuten ein. Seine Fahrt nach Avoriaz hinauf war die bis heute schnellste aller Zeiten auf der Steigung in diesen Wintersportort. Tags zuvor gewann er auch die Bergetappe nach Cluses und belegte am Ende Rang zwei in der Gesamtwertung. Weitere Gewiss-Highlights dieser Tour waren die Etappensiege von Nicola Minali und Bjarne Riis.
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Man grübelte über die Explosivität des im Spätherbst seiner Karriere stehenden Ugrumov, der jahrelang zuvor nicht aufgefallen war, man rätselte über Evgeni Berzin, der wie aus dem Nichts die gesamte Klassiker- und Rundfahrten-Weltelite in Grund und Boden fuhr, man fragte sich, wie es sein konnte, dass ein alternder Moreno Argentin die Dolomitenpässe spielerisch leicht wie nie zuvor nehmen konnte.
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