Vitali Klitschko hat einen bravourösen Kampf geliefert, den ihm keiner zugetraut hätte, und sein Weichei-Image, das ihm nach dem Byrd-Kampf leichtfertig aufgedrückt worden war, abgelegt. Aber man soll ihn dennoch nicht zum "Weltmeister der Herzen" hochstilisieren, den Abbruch eine Manipulation nennen, den Ringarzt für gekauft erklären und eine Lewis-Mafia verantwortlich machen, daß Vitali um den Titel gebracht worden sei. Das ist alles Unsinn. Denn der bessere Boxer war er an diesem Abend nicht. Das müssen auch die einsehen, die seine Leistung anerkennen.
Was hat Vitali geboten? Die bekannte statische Beinarbeit und Hüftsteifheit, die wir schon kennen, waren keineswegs abgestellt. Er kämpfte über weite Strecken des Kampfes deckungslos. Er landete außer jener Geraden in der zweiten Runde keinen einzigen Wirkungstreffer von Belang. In der fünften und sechsten Runde wirkte er bereits hilflos und steckte einen Treffer nach dem anderen ein, ohne noch zurückschlagen zu können. Vergessen wir doch nicht, daß Lewis gegen Tyson ebenfalls in der ersten, zweiten Runde in Schwierigkeiten war, dann aber zu seiner gewohnten Souveränität fand: ausweichen, pendeln, im richtigen Augenblick klammern und überfallartig kontern. Die dritte und vierte Runde gegen Klitschko waren gekennzeichnet von einer frühen Erschöpfung der beiden Kontrahenten. Wie kann man von einer konditionellen Überlegenheit Klitschkos reden, da der Mann doch augenscheinlich schon nach zwei Runden stark erschöpft war? Zu Beginn der fünften Runde rechnete ich damit, daß Lewis Vitali knockout schlagen würde wie seinerzeit Golota, aber Klitschko blieb stehen und steckte selbst härteste Uppercuts weg; das hat mich erstaunt. Aber Vitali war von der fünften Runde an den jetzt härteren und präziseren Attacken Lewis' ausgeliefert, er konnte sich nicht mehr schützen, sei's daß er durch die Verletzung doch in der Sicht behindert war, sei's daß er konditionell am Ende war, sei's daß ihn Lewis' Schläge doch mehr und mehr zu beeindrucken begannen. Ein technischer k. o. lag von der fünften Runde an in der Luft. Davor hat Vitali der Abbruch bewahrt; er hat ihm nicht den WM-Titel geraubt.
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